Dossenheim begeht „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“

Die diesjährige Gedenkveranstaltung auf dem Friedhofsvorplatz fand großes Interesse. Eingeladen hatten Bürgermeister David Faulhaber für die Gemeinde und Pfarrer Ronny Baier für die Initiative Stolpersteine.

Ein Dossenheimer Klarinettentrio – Elena Neumann, Paulina Pfeifer und Karla Schmitt – eröffnete das Gedenken mit dem Stück „Menuetto und Trio“.

Danach begrüßte Bürgermeister Faulhaber die versammelten Bürgerinnen und Bürger. Zu Beginn seiner Rede dankte er den drei Musikerinnen und den Mitgliedern des Jugendgemeinderats – Katharina Bader, Romy Bonifer, Klara Harbarth und Qiuyan Tong – sowie der Initiative Stolpersteine für Vorbereitung und Mitwirkung. Es sei „heute nicht der Tag für laute Worte, jedoch der Tag für starke, beharrliche Worte: Nie wieder“. Er betonte die Stärke der Gemeinschaft angesichts des „millionenfachen Leids und sinnloser Tode“. Und: „Wir müssen erinnern, dürfen niemals vergessen.“

Die Jugendlichen trugen nun die berühmt gewordenen und vielzitierten Worte des evangelischen Pfarrers und Theologen Martin Niemöller (1892-1984) vor, die dieser unmittelbar nach Ende des Krieges und nach dem Ende des NS-Terrors in vielen Reden formuliert hatte:

»Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Gewerkschaftler.
Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr,
der protestieren konnte.«

Niemöller war zunächst begeisterter Anhänger des Dritten Reichs. Im Laufe des Erlebens der NS-Diktatur wandelte er sich zum aktiven Widerstandskämpfer in der Bekennenden Kirche. Er sprach sich offen gegen Adolf Hitler aus und verbrachte die letzten sieben Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft in Konzentrationslagern.

Für die Initiative Stolpersteine griff anschließend Dr. Norbert Giovannini die Worte „habe ich geschwiegen“ in ihrer Bedeutung für unsere Gegenwart auf:

„Alle, die Niemöller nennt, waren ihm ursprünglich zuwider. Das alles war er ja nicht. Da konnte er wegschauen, ignorieren, schweigen, als sie verhaftet, deportiert, geschunden und schließlich getötet wurden. Bis er selbst an der Reihe war.“

Niemöller hätte noch viele andere Opfer und Opfergruppen nennen können, die vom beispiellosen Vernichtungswillen des Regimes erfasst wurden, führt Giovannini weiter aus:

„Wir denken heute an die Sinti und Roma, die als ‚Zigeuner‘ gekennzeichnet, rassistisch verfolgt wurden. 250 000 von ihnen wurden in Lagern ermordet, ein Großteil im sogenannten Zigeunerlager von Auschwitz. Wir denken an die geistig und körperlich Behinderten, die zu Hundertausenden zwangssterilisiert und getötet wurden, an diejenigen, die den Stempel ‚lebensunwertes Leben‘ aufgedrückt bekamen. An die dreieinhalb Millionen russischer Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter. An die konsequenten Militär- und Kriegsdienstverweigerer, die Zeugen Jehovas, von denen ca. 2000 verurteilt, hingerichtet oder in Lagern zu Tode geschunden wurden. An die Homosexuellen, an die sogenannten ‚Asozialen‘ und ‚Minderwertigen‘, an die mutigen NS-Gegner und Widerständler in Parteien und Kirchen und Vereinen. An die von Sondergerichten und Kriegsgerichten zum Tode Verurteilten.“

Niemöller habe aber nicht nur von den Opfern gesprochen, sondern auch auf die Täter gezeigt, wenn er sagt: „Als die Nazis die Kommunisten, die Sozialdemokraten, die Gewerkschafter, die Juden holten.“ Die „Nazis“, so Giovannini, „das ist nicht die geschlossene Clique, die sich trennscharf unterschieden hat vom Rest der Bevölkerung. Kein Regime kann erfolgreich sein, wenn es ohne bedingungslos loyale Mitmacher und Anhänger bleibt. Wir sehen vor unseren Augen die Tausenden von Mitwirkenden, Ausführenden, Mitmacher. Polizisten, SA, SS, Soldaten, eifrige Bürger, Denunzianten, Lagerwachen, Ärzte und Juristen, Unternehmer, die Mitläufer und Mittäter, die Profiteure des Terrors.“

Was bedeutet uns heute dieses „habe ich geschwiegen“? Welche Folgen hat diese Haltung? Der Sprecher der Stolperstein-Initiative beschließt seine Rede mit folgenden Gedanken:

„Die Verfolger hatten leichtes Spiel. Weil die Verfolgten keine Hilfe, keine Solidarität bekamen, allenfalls Erbarmen und Mitleid und ängstliches Wegsehen und Schweigen. Es ist eine klare Botschaft, die Niemöller an sich und uns richtet. Wenn wir die notwendige Solidarität, die Hilfe, die elementare menschliche Zuwendung für und mit den Verfolgten verweigern, wenn wir wegschauen, die ‚anderen‘ leiden lassen, weil sie nicht ‚unsere‘ sind, dann kann sich der Terror unbeschränkt durchsetzen. Dann entkernt sich die Gesellschaft moralisch. Dann brechen die Dämme vor dem Bösen. Das ist die Botschaft, die bis heute gültig ist. Dort, wo es Gewalt gibt – auch im ganz nahen Bereich, dem Alltag, den Beziehungen der Menschen – dort, wo es Rassismus, Verfolgung, Diskriminierung, Hass und Hetze gibt, dort sind wir gefragt. Dort sind unsere Zivilcourage, das mutige Entgegentreten, die Solidarität und die ganz elementare Hilfe gefragt. Hier kann jeder mitwirken. Diese Chance hat jeder, und gefragt ist jeder, auch und gerade dann. Gerade dann.“

Mit dem Stück „Shalom Alejchem“ beendete das Klarinettentrio die bewegende Gedenkveranstaltung.

Text: Rainer Loos