Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Die Gedenkfeier begann mit traditioneller jüdischer Musik, vorgetragen von den beiden jungen Dossenheimer Klarinettistinnen Karla Schmitt und Pauline Pfeifer, sie sorgten auch am Ende für einen würdigen Rahmen. Mit mahnenden Worten sprach zunächst Bürgermeister David Faulhaber, es folgte die Rede von Norbert Giovannini für die Initiative Stolpersteine Dossenheim. Hier die Reden im Wortlaut:

Sehr geehrte Damen und Herren,

der heutige Tag erinnert uns an die dunkelste Zeit unserer Geschichte, in der Millionen unschuldiger Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Religion und politischen Überzeugung grausam verfolgt und ermordet wurden.

Es ist unsere Pflicht und Verantwortung, uns immer wieder bewusst zu machen, welch unermessliches Leid diese Opfer erfahren haben. Wir müssen ihre Geschichten erzählen und ihre Erinnerung bewahren, damit sich solche Grausamkeiten niemals wiederholen – dies ist heute leider aktueller denn je.

Der Nationalsozialismus war eine Ideologie des Hasses, der Diskriminierung und Gewalt. Er hat die Grundprinzipien unserer Gesellschaft, wie Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde, mit Füßen getreten. Die Opfer des Nationalsozialismus waren Menschen wie du und ich. Sie hatten Träume, Hoffnungen und Familien, die ihnen auf menschenverachtende Art genommen wurden.

Wir dürfen niemals vergessen, dass der Holocaust nicht aus dem Nichts entstanden ist. Er war das Ergebnis von jahrelanger Propaganda, Ausgrenzung und systematischer Diskriminierung. Es begann mit bloßen Worten, Worten des Hasses und endete in den Konzentrationslagern und Vernichtungslagern, in denen Millionen Menschen ihr Leben verloren.

Schließen möchte ich mit den einprägsamen Worten von Elie Wiesel, Überlebender des Holocaust und Friedensnobelpreisträger

„Gedenken bedeutet Verantwortung übernehmen, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.“

– Bürgermeister David Faulhaber –


Liebe Dossenheimerinnen und Dossenheimer,

der 27. Januar ist Anlass für ein jährliches Gedenken.

Wir denken zurück an den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz an eben diesem 27. Januar 1945. Auschwitz steht bis auf den heutigen Tag als unvorstellbare Realität dessen, was Menschen an Destruktion, an tödlicher Vernichtung, an Massenverbrechen zu tun imstande sind. Und deshalb stellt dieses Gedenken jedes Jahr eine neue Herausforderung an uns dar: Wie war das möglich? Ist das vorbei? Wirkt es nach? Gibt es gesichertes „Nie wieder!“, ober steckt der Horror dieses Menschheitsverbrechens noch in den Köpfen, den Herzen, den Ansichten von Menschen, heute und hier? Und wie gehen wir damit um, wenn das sichtbar und überdeutlich wird?

Es ist ein gutes Zusammentreffen, dass wir hier in Dossenheim am 6. Februar 2024 Stolpersteine verlegen. Es sind neun Steine für neun Dossenheimerinnen und Dossenheimer. Sie wurden Opfer der Nazi-„Euthanasie“. Menschen, die geistige, psychische, körperliche Einschränkungen und Leiden hatten; die Sorge, Zuwendung, Heilung brauchten. Menschen, die aber in für sie furchtbar gefährlichen Zeiten in die psychiatrische Universitätsklinik in Heidelberg gebracht wurden. Diagnose: Unheilbar, Schizophrenie, Epilepsie, Verwirrung, Blödheit. Seit 1940 eine tödliche Diagnose. Sie wurden überwiesen in die Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch. Von dort in die Tötungsanstalten, in unseren Regionen: Hadamar und Grafeneck. Im Ganzen zwischen  200 und bis 300tausend Menschen, die im Laufe des Geschehens zwangssterilisiert wurden, die in den Anstalten vergast wurden, die man hat verhungern lassen, die medizinischen Experimenten ausgesetzt wurden oder denen man die Medikamente entzogen hat. „Euthanasie“, der „gute Tod“, war zu einem Mordgeschäft geworden, an dem sich ganze Schwadrone von Ärzten, Pflegern, Schreibtischtätern, Medizinprofessoren beteiligt haben. Eines dieser Dossenheimer Opfer war Philipp Sauer. Ein harmloser Jugendlicher, ein bisschen naiv, ein bisschen leichtsinnig, eine kleine Vorstrafe, verwirrt und krank. Er ist dem Regime nicht entkommen,  Philipp Sauer hat – als einziger aus Dossenheim – überlebt: Die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945.  Für fünf Monate. Dann ist er in Auschwitz an den Folgen von Haft und Deportation gestorben.

Was bedeutet das heute? Sind wir nicht längst weit weg von diesem Denken und Handeln, das geprägt war von Vorstellungen, man müsse „unwertes“ Leben „ausmerzen“, den „Volkskörper reinigen“, uns von „Ballastexistenzen“ befreien. Ein Denken, das in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden ist und offenbar großen Reiz ausübte auf Menschen, die sich um die „Veredelung“ bemühten,  den „Volkskörper“ von „Schädlingen und Geschwüren“ befreien wollten. Wir wissen, wohin dieser furchtbare, schließlich völkische Sozialdarwinismus hingeführt hat. Wie fatal die Vorstellung ist, wir seien alle, außer dass wir ich und du sind, immer auch Teil eines imaginären Körpers, des Volkskörpers, den man gesund und rein halten muss. So wie die Vorstellung, dass man einer „Rasse“ angehöre, im schlimmsten Fall der jüdischen, der man nicht entkommen konnte, weil sie nicht religiös, sondern biologisch-rassistisch definiert war. Alles vorbei und gestern? Nein, ein österreichischer Identitärer faselt jüngst davon, dass wir sie alle hinausschmeißen müssen, die nicht zu uns gehören. Und ein thüringischer Rechtsradikaler meint, man müsse den Leuten nur ins Gesicht sehen, um festzustellen, dass sie zu uns gehören oder eben nicht.

Ist heute, über 80 Jahre nach dem Geschehen, das unseren neun Dossenheimerinnen und Dossenheimer den Tod brachte, die  Brandmauer noch intakt, gegen dieses völkische, radikale, menschen-vernichtende Denken? Sind wir immun, wenn da einer so nebenbei sagt, die Inklusion sei doch nur ein ideologisches Projekt, was den Gesunden und Guten und Leistungsfähigen schadet, und ein anderer unwidersprochen erzählt, man müsse, wenn es sein muss, Millionen von Menschen „remigrieren“,  weil sie nicht in unsere völkische Identität hineinpassen. Und wenn eine Partei, die sich anschickt, in diesem Jahr sich festzubeißen in Landesregierungen und Kommunen, sich das zu Eigen macht, dubiose Zirkel zu Privatgesprächen umdeutet und den selbst erfundenen, den angeblichen „Bevölkerungsaustausch“ nun in umgekehrter Richtung praktizieren will. Der hunderttausendfache Protest dagegen auf den Straßen antwortet ihnen. Er machte deutlich: Es gibt in Deutschland, bei uns, keine Mehrheit für dieses völkische und Nazi-Denken und Handeln. Die Freiheit, die Menschlichkeit, die Werte von Humanität, Akzeptanz, Menschenwürde und Solidarität lassen wir uns nicht nehmen. Nie wieder! Deshalb denken wir zurück an Auschwitz.

Uns allen zur Warnung: Es gibt, heute wie damals, ja, leider, immer tausend Gründe, nichts zu machen, alles hinzunehmen und alles irgendwie passiv hinzunehmen. Eigennutz, Angst, halbes Einverständnis, der Reiz, mitzumachen, das mögen die Motive sein. Wir sehen an Auschwitz, wohin die Fahrt dann gehen kann.

Deshalb gedenken wir. Gedenken ist ein Zurückschauen. Was nehmen wir mit aus unserem Blick zurück? Wie schauen wir jetzt auf uns und auf heute. Nie wieder ist jetzt! Und wir schauen nach vorne. Nie wieder muss nie wieder bleiben.

Die Dossenheimer Stolpersteine für die „Euthanasie“-Opfer in unserem Ort werden am 6. Februar verlegt. Sie sind als Mahnung und Erinnerung in die Gehwege gesetzt. Tragen wir alle dazu bei, dass unser Land friedlich, solidarisch, menschlich und frei bleibt. Dass nicht Hass, Feindschaft und Vernichtungswillen unsere Gesellschaft zerstören kann. Nie wieder!

– Norbert Giovannini –